Prof. Dr. von Heintschel-Heinegg ist Sonderermittler in Sachen NSU in Thüringen

von Rechtsanwalt Prof. Dr. von Heintschel-Heinegg

"Unser 11. September"

Der Straubinger Bernd von Heintschel-Heinegg (73), einst Staatsanwalt und Richter am hiesigen Amtsgericht, bei seiner Pensionierung Vorsitzender Richter am Bayerischen Oberlandesgericht München, wurde jetzt in Thüringen zum Sonderermittler in Sachen NSU bestellt. Bernd von Heintschel-Heinegg gilt als ausgewiesener Fachmann auf diesem Gebiet. Wir sprachen mit ihm über diese heikle Aufgabe, seine gesellschaftspolitische Einschätzung und über den Alltag eines Pendlers zwischen Straubing und Erfurt.

Sie sind vor kurzem zum Sonderermittler in Sachen NSU in Thüringen bestellt worden. Was ist dabei ihre konkrete Aufgabe? Wie kann man sich Ihre Arbeit vorstellen?

Prof. Bernd von Heintschel-Heinegg: Wie die Medien berichteten, streitet seit einem Jahr der NSU-Untersuchungsausschuss im Thüringer Landtag mit der Landesregierung über die Herausgabe von Akten des Thüringer Landeskriminalamts, anhand derer der Untersuchungsausschuss prüfen will, ob die Polizei Informanten im Bereich der organisierten Kriminalität hatte, die eventuell auch in der rechtsextremen Szene unterwegs waren. Um den Streit zu lösen, einigte man sich auf die "Heintschel-Heinegg-Kommission", der neben meiner Person ein ehemaliger Vizepräsident eines thüringischen Landgerichts und ein pensionierter hoher thüringischer Polizeibeamter angehören. Derzeit sichten wir die Akten mit Blick auf das Anlegen des Untersuchungsausschusses und werden bis Ende Februar der Thüringer Landesregierung unseren Bericht vorlegen.

Wie sieht ihr Alltag aus: Pendeln Sie zwischen Thüringen und Straubing? Und gibt es eine zeitliche Beschränkung, bis diese Aufgabe zum Abschluss kommen muss?

von Heintschel-Heinegg: Bedingung für meine Zusage in Thüringen war zum einen, dass der zeitliche Aufwand überschaubar ist, weiterhin dass ich personell mit einem Juristen und einem erfahrenen Polizeibeamten, die beide mit der Situation in Thüringen vertraut sind, unterstützt werde und schließlich, dass ich mit Blick auf die Arbeit in der Anwaltskanzlei die Akten zeitlich nicht an einem Stück sichten kann. Deshalb bin ich wöchentlich normalerweise zwei, ausnahmsweise mal drei Tage in Erfurt. Mit der thüringischen Landesregierung ist besprochen, dass ich bis Ende Februar meinen Bericht vorlege. Da in Thüringen im September gewählt wird, muss der Untersuchungsausschuss rechtzeitig mit der Beweisaufnahme fertig werden, um noch ausreichend Zeit für seinen Abschlussbericht zu haben.

Wie legen Sie denn diese nicht unbeträchtliche Strecke regelmäßig zurück?

von Heintschel-Heinegg: Für die Fahrten nach Erfurt benutze ich die Bahn, um arbeiten, aber auch um die Zeitung oder ein Buch zu lesen. Wenn ich morgens mit dem IC um 8.05 Uhr in Straubing starte, bin ich bereits um 11.26 Uhr in Erfurt. Das ist eine perfekte Verbindung.

Sie gelten als ausgesprochener Kenner der Materie. Wie sind Sie ursprünglich zu dieser heiklen Thematik gekommen?

von Heintschel-Heinegg: Einer meiner ersten großen Staatsschutzprozesse war das Verfahren gegen Martin Wiese wegen des geplanten Sprengstoffanschlags bei der Grundlegung des jüdischen Gemeindezentrums in München im Beisein des Bundespräsidenten. Seine jugendlichen Gefolgsleute haben wir in einem fast parallel laufenden Prozess verhandelt. In Vorbereitung auf diese beiden Prozesse habe ich mich intensiv mit Rechtsextremismus und rechter Gewalt befasst. Diese beiden Verfahren waren der Grund dafür, dass der erste NSU-Untersuchungsausschuss des Deutschen Bundestags unter Vorsitz von MdB Sebastian Edathy bei mir anfragte, ob ich als Ermittlungsbeauftragter für den Ausschuss arbeiten möchte. Vorgesehen war ein Zeitraum von sechs Monaten. Schließlich war ich eineinviertel Jahre in Berlin. Und auch für den zweiten NSU-Untersuchungsausschuss unter Vorsitz von MdB Clemens Binninger war ich dann länger in Berlin als ursprünglich vorgesehen. Bald darauf folgte meine Tätigkeit für die NSU-Untersuchungsausschüsse in Baden-Württemberg, Hessen und Nordrhein-Westfalen und jetzt für die Landesregierung in Thüringen. Auch war ich einige Zeit in Sachen NSU für den Berliner Innensenator tätig.

Was haben Sie als Erfahrungen persönlich aus diesen Tätigkeiten mitgenommen?

von Heintschel-Heinegg: Die vielfältigen Erfahrungen in den vergangenen Jahren waren für mich eine große Bereicherung, für die ich sehr dankbar bin. Wer hat schon die Möglichkeit, den Politikbetrieb in Berlin und anderswo hautnah kennenzulernen?

... und juristisch und politisch?

von Heintschel-Heinegg: Juristisch war Staatsschutz für mich kein Neuland. Durch die wochenlangen Arbeiten beim Bundesamt für Verfassungsschutz und beim Bundeskriminalamt kam ich aber mit neuen interessanten Rechtsgebieten in Berührung, mit denen ich mich bislang beruflich noch nicht näher hatte beschäftigen müssen. Mein Interesse für den "Staatsschutz" aus verfassungsschutzrechtlicher, strafrechtlicher, polizeirechtlicher und verwaltungsrechtlicher Sicht wurde dann immer stärker. Ich wurde zu Tagungen der Sicherheitsbehörden und auch der Nachrichtendienste eingeladen. Dies brachte mich auf den Gedanken, die vielfältigen Aspekte in einem Handbuch zusammenzustellen, was es so bislang noch nicht gibt. Für das Projekt, für das ich noch drei Mitherausgeber gewinnen konnte, sind die Autorenverträge mit ausgewiesenen Experten auf ihrem jeweiligen Spezialgebiet bereits geschlossen. Wir treffen uns am 1. März in Berlin. Die Bundestagsverwaltung hat es dem Verlag freundlicherweise ermöglicht, unsere Besprechung im Reichstagsgebäude abzuhalten. Auf dieses Buch, das hoffentlich Anfang nächsten Jahres erscheinen wird, das aber auch mein letztes sein wird, freue ich mich schon sehr.

Was hat Sie persönlich am NSU-Prozess am meisten interessiert?

von Heintschel-Heinegg: Den NSU-Prozess, der neben den Auschwitz- und RAF-Prozessen zu den wichtigsten in der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte zählt, habe ich schon deshalb intensiv verfolgt, weil, was erstmals passierte, ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss noch vor Prozessbeginn seine Arbeit aufgenommen hatte. Normalerweise folgt die Aufarbeitung in parlamentarischen Untersuchungsausschüssen der justiziablen nach. Für mich als Ermittlungsbeauftragter des ersten NSU-Untersuchungsausschusses war dies deshalb eine schwierige Situation, weil seitens des Untersuchungsausschusses für meine Arbeit die Vorgabe bestand, mit meinen Ermittlungen nicht dem Prozess "in die Quere zu kommen", auf den die Öffentlichkeit schon lange wartete. An einem der Prozesstage war ich auch in München, um mir ein eigenes Bild zu machen. Der mit Akribie mit Blick auf die zu erwartende Revision im Fall einer Verurteilung von Beate Zschäpe mehr als fünf Jahre geführte Prozess stellte die Öffentlichkeit auf eine arge Geduldsprobe.

Wie schätzen Sie diesen Prozess denn aus ihrer juristischen Perspektive ein?

von Heintschel-Heinegg: Die juristischen Hürden für die Verurteilung als Mittäterin, ohne selbst an einem Tatort gewesen zu sein, liegen hoch und werden dem Senat in München im Rahmen der Urteilsbegründung einiges abverlangen.

Und was ist ihre politische Einschätzung?

von Heintschel-Heinegg: Politisch hat der NSU bewirkt, dass die bundesdeutsche Sicherheitsarchitektur sich wesentlich verbessert, trotzdem aber noch verbesserungsbedürftig ist wie die Vorkommnisse um Anis Amri belegen. Wie in keinem anderen Komplex stand die Arbeit der Sicherheitsbehörden in Sachen NSU auf dem Prüfstand und trotzdem bleiben zentrale Fragen offen: Ist mit dem Trio der NSU in seinen Dimensionen richtig erfasst oder war es ein größeres Netzwerk? Wie war es möglich, dass die beiden Neonazis Böhnhardt und Mundlos gemeinsam mit Zschäpe unter falschen Namen mitten in Deutschland untertauchen und mehr als 13 Jahre morden und rauben konnten? Bewegten sich doch über 40 Spitzel von Inlandsgeheimdiensten und Polizei im Laufe der Jahre ohne greifbaren Erfolg im Umfeld des Trios. Weder das Nagelbombenattentat in der Kölner Keupstraße, noch der Polizistenmord an Michéle Kiesewetter in Heilbronn und schon gar nicht der Mord an Halit Yozgat in Anwesenheit eines hessischen Verfassungsschützers in Kassel sind überzeugend aufgeklärt. Warum brach die Mordserie nach dem Anschlag auf die beiden Polizeibeamten auf der Theresienwiese in Heilbronn im Jahr 2007 ab? Was geschah im Wohnmobil am 4. November 2011, als Böhnhardt und Mundlos bis an die Zähne bewaffnet nach dem Auftauchen von zwei Streifenbeamten den Tod finden?

Hört sich an nach "Der Vorhang zu und alle Fragen offen"...

von Heintschel-Heinegg: All dies ist deshalb so äußerst unbefriedigend, weil die NSU-Morde "unser 11. September" sind, wie es der frühere Generalbundesanwalt Harald Range formulierte, und sich die noch leider unaufgeklärten Umstände zum NSU-Komplex einreihen in die immer noch nicht völlig aufgeklärten Taten der dritten RAF-Generation und den immer noch ungeklärten Fragen zum Oktoberfestanschlag.

Hat ihre aktuelle Tätigkeit und die jahrelange Beschäftigung mit diesem Thema ihre Einschätzung des politischen Bewusstseins in der Bundesrepublik verändert?

von Heintschel-Heinegg: Die Beschäftigung mit dem NSU und der dahinter stehenden faschistischen Ideologie führte mir deutlich vor Augen, dass wir aus der Geschichte des Nationalsozialismus gerade mit Blick auf aktuelle Entwicklungen lernen müssen. Am 30.1.1933 ernannte Reichspräsident Hindenburg Hitler zum Reichskanzler. Wie Mussolini ein Jahrzehnt zuvor, erhielt Hitler den Schlüssel zur Macht zwar mit breiter Unterstützung der Bevölkerung aber dennoch ohne in einer Wahl die Mehrheit erzielt zu haben und dennoch auf verfassungsmäßige Weise, gefeiert von Hitler als "legale Revolution". Das sollte uns Mahnung genug sein, darauf zu achten, welchen Weg unsere Demokratie nimmt.

Machen Sie sich Sorgen um unseren Rechtsstaat?

von Heintschel-Heinegg: Über unseren Rechtsstaat brauchen wir uns aktuell keine Sorgen machen, aber demokratische Mehrheiten können rasch massiv in die Meinungs- und Pressefreiheit oder auch die richterliche Unabhängigkeit eingreifen, wie ein Blick nach Ungarn oder Polen zeigt.

Als Sie als Vorsitzender Richter am Bayerischen Oberlandesgericht München in Pension gingen, hätten Sie da gedacht, dass Sie juristisch nochmal durchstarten, wenn man das so flapsig formulieren darf?

von Heintschel-Heinegg: An ein "nochmals juristisch Durchstarten" habe ich nicht gedacht, aber an das eine oder andere strafrechtliche Thema wollte ich mich wissenschaftlich schon noch setzen, wie zum Beispiel die Ursachen von Fehlurteilen, um es wissenschaftlich aufzuarbeiten. Nachdem meine Frau wenige Monate vor meiner Pensionierung verstorben war, kam ich mit meinen Freund schnell überein, in seiner Kanzlei mitzuarbeiten. Daraus ist dann sehr schnell in zwischenzeitlich mehr als acht Jahren ein Fulltimejob geworden.

Kommen Sie neben all der Arbeit in Thüringen und in der Kanzlei auch einmal dazu, noch ein Buch zu lesen?

von Heintschel-Heinegg: Schon, auch wenn ich gestehen muss, dass ich viel mehr Bücher kaufe, als ich momentan lesen kann. In Sachen NSU ist meine Bibliothek wohl so gut wie komplett; sie war und ist für meine Arbeiten für die Untersuchungsausschüsse und jetzt für die Arbeit in Thüringen sehr wertvoll, weil viele Autoren an dem Komplex gearbeitet und Rechercheergebnisse publiziert haben, die sich so nicht in den Akten finden. - Gerade lese ich Madeleine Albright "Faschismus" und parallel dazu "Der islamische Faschismus". Albrights Buch ist eine Warnung, wie es im Untertitel heißt. Entstanden aus Diskussionen mit ihren Studenten an der Georgetown-Universität in Washington liefert es historisches Anschauungsmaterial, wie mit großer Unterstützung der Bevölkerung Wege in die Diktatur aussahen und sich wiederholen können. Deshalb kann ich gerade der jungen Generation dieses Buch nur sehr ans Herz legen.

 

Quelle, Straubinger Tagblatt vom 18. Januar 2019,
Monika Schneider-Stranninger,Redaktion Straubing Stadt, Straubinger Tagblatt

 

Zurück